Ergotherapeut:innen nutzen KONTakt, um bei Menschen mit sprachlichen Einschränkungen Missverständnisse zu vermeiden und die Inklusion zu fördern Neurologische Erkrankungen, Unfälle, Sauerstoffmangel bei der Geburt oder eine angeborene Gehörlosigkeit können sprachliche und kommunikative Beeinträchtigungen verursachen. „Es ist durch Studien belegt, dass Menschen mit sprachlichen Beeinträchtigungen nachweislich häufiger von Fehlbehandlungen und anderen, vermeidbaren Schwierigkeiten betroffen sind als Menschen, die sich klar artikulieren können“, verdeutlicht Professorin Hilke Hansen die schwerwiegenden Folgen einer mangelnden Kommunikation zwischen Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen und Ärzt:innen, Therapeut:innen, Pflegenden und anderen Personen. Gemeinsam mit angehenden Ergotherapeut:innen, weiteren Studierenden und Betroffenen hat die Logopädin das Programm KONTakt ausgearbeitet. Dank einer Förderung durch das niedersächsische Wissenschaftsministerium für innovative Lehre entstand ein open-source Instrument mit Informationen und Materialien wie Lernvideos, die frei zugänglich sind.
Die Zahl der Betroffenen in Deutschland ist nicht bekannt; Rückschlüsse aus Erhebungen anderer Länder wie Australien und Finnland legen nahe, dass in Deutschland zwischen einer und vier Millionen Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen leben. „Das sind wirklich viele Menschen, von denen wir hier sprechen“, betont Hilke Hansen und ergänzt: „Es kann jeden treffen, beispielsweise nach einem Schlaganfall, mit Parkinson, ALS oder auch durch einen Unfall mit Schädelhirntrauma“. Anna Beck, eine der betroffenen Mitwirkenden bei KONTakt, wünscht sich auch daher mehr Verständnis für ihre Situation: „Ich möchte so behandelt werden, wie es sich jede und jeder für sich selbst wünscht, sollte er oder sie jemals die Fähigkeit zum Sprechen oder zur Sprache verlieren; und das kann leichter passieren, als man denkt“.
Das nagt am Selbstbewusstsein von Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen
Es ist bislang üblich, dass Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen oft gebeten werden, mit einer Begleitperson in die Arztpraxis, die Therapie und zu anderen Terminen zu kommen. „Dort wird meist über meinen Kopf hinweg nur mit der Begleitperson gesprochen, ich bin anwesend und doch unsichtbar, es kommt zu Missverständnissen, weil ich nicht für mich selbst stehen darf und alles unter Zeitdruck besprochen wird“, legt Anna Beck dar, wie verunsichert und machtlos sie sich in solchen Momenten fühlt. Hinzu kommt, dass auch die Begleitperson – oft sind es Angehörige – gar nicht angemessen vermitteln kann, welche Art von Beschwerden, Schmerzen oder sonstigen Anliegen der Mensch mit einer kommunikativen Beeinträchtigung hat. Niemand kann in einen anderen hineinfühlen, hineinhören. Ganz zu schweigen von dem Frust und der Traurigkeit, die es auslöst, wird über einen hinweg entschieden, ohne sich (verbal) zur Wehr setzen zu können. Wenn beide Seiten es wollen, so die Erfahrung von Menschen mit einer kommunikativen Beeinträchtigung, kann es sehr wohl gelingen, miteinander zu kommunizieren. Und da ist jedes zusätzliche Mittel geeignet: Schreiben, Bildtafeln, Gestik, Mimik und die gesamte Bandbreite der nonverbalen Kommunikation können helfen, sich deutlicher zu verständigen.
Fragen, fragen, fragen: so führt ein Gespräch mit Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen zum Ziel
Dem wollte die Dozentin Hilke Hansen gemeinsam mit den Studierenden eines additiven Studiengangs aus Ergotherapeut:innen, Physiotherapeut:innen und Logopäd:innen etwas entgegensetzen: Sie haben gemeinsam mit Betroffenen das Trainingsprogramm KONTakt erarbeitet. Der Name KONTakt ist ein Akronym, also das Kürzel für die fünf Bausteine des Programms und in diesem Fall funktioniert der Name sogar als Eselsbrücke. „Maßgeblich ist, wie schon gesagt, dass beide Seiten die Kommunikation auf direktem Weg, also ohne das Zwischenschalten einer weiteren Person, wollen“, bestätigen Beck und Hansen, dass die eigene Haltung und Einstellung darüber entscheiden, wie das Miteinander verläuft. Der erste Baustein von KONTakt, „K“, steht für „Kennenlernen“. Das bedeutet, sich Gedanken zu machen, welche Auswirkungen die Erkrankung auf die Kommunikation des betroffenen Menschen hat. Versteht die Person alles, was ich sage? Falls ja, ist es selbstverständlich und respektvoll, genauso zu sprechen wie immer. Ist hingegen das Verständnis oder das Hören beeinträchtigt, hilft es, langsamer oder in leichter Sprache zu kommunizieren. Auch wichtig: Benutzt der Mensch mit kommunikativen Beeinträchtigungen Hilfsmittel? „Ein adäquater Ansatz ist generell, den- oder diejenige selbst zu fragen“, empfiehlt Hilke Hansen, diesen Aspekt des klientenzentrierten Arbeitens von Ergotherapeut:innen zu übernehmen. Fragen wie „Ist es möglich, dass...“ oder „Wie passt es für Sie“ schaffen gute Voraussetzungen, um die individuellen Bedürfnisse und Wünsche Betroffener zu erfahren und zu beherzigen und auch dadurch eine gute Kommunikation zu unterstützen. Anna Beck bestätigt das: „Wenn mein Gegenüber mich nicht versteht, nicht nachfragt, sondern sogar denkt, ich sei kognitiv beeinträchtigt, weil ich eine kommunikative Beeinträchtigung habe, habe ich gleich zwei Probleme: ich muss mich noch mehr bemühen, gut zu artikulieren und außerdem muss ich beweisen, dass ich nicht geistig eingeschränkt bin“. Hansen bescheinigt das: „Es ist weit verbreitet, sprachliche Handicaps mit verminderten kognitiven Fähigkeiten gleichzusetzen. Das stimmt jedoch in den wenigsten Fällen und wer das tut, kränkt diese Menschen, tut ihnen unrecht“.
Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen im eigenen Tempo und ausreden lassen
Der zweite Baustein, „O“, geht auf die Optionen der Kommunikation wie Hilfsmittel & Co. ein. „N“ bedeutet: Nachhaken, ob das Gegenüber alles verstanden hat, zusammenfassen, was man selbst verstanden hat, und – das Wichtigste: ehrlich zu sein, zu sagen, wenn etwas nicht verstanden wurde, wiederholen lassen und sich die Zeit nehmen, um einen Konsens zu erzielen. Die eigene Unsicherheit hat hier nichts verloren. Was auf den ersten Blick „teuer“ im Sinne von Zeitaufwand und Kosten verursachend erscheinen mag, ist es jedoch nicht. Denn rechnet man in die Zukunft, kommen Behandlungsfehler, die aus misslungener Kommunikation resultieren, die Versorgungsträger und letztendlich die Gesellschaft und jeden Einzelnen teurer zu stehen. Ganz abgesehen von den vermeidbaren, dadurch zusätzlich entstehenden körperlichen und seelischen Problemen und Gefühlsverletzungen, die Menschen mit kommunikativen Beeinträchtigungen dadurch zugefügt werden. Diesen Aspekt beleuchtet im Übrigen der letzte Teil des Programms, „Takt“. Takt hat mehrere Bedeutungen, außer um Tempo und Rhythmus geht es hier auch „Taktgefühl“. Respekt und einfühlsames Verhalten sollten die Grundeinstellung derjenigen sein, die das Programm in ihren Arbeits- und hoffentlich auch privaten Alltag integrieren.
Evaluation, Seminare und Materialien für eine bessere Kommunikation
Eine Evaluation, also Auswertung, hat unter anderem gezeigt, wie KONTakt die Arbeit von Ergotherapeut:innen verändert. Es gibt unter anderem Aussagen zum Selbstwirksamkeitsgefühl bei den behandelnden Ergotherapeut:innen: Einer solchen Aufgabe gewachsen zu sein und mit Menschen mit sprachlichen Beeinträchtigungen tatsächlich viel zielgerichteter und erfolgreicher arbeiten zu können, stärkt das Selbstwirksamkeitsgefühl. „Die Rückmeldungen waren eindeutig: Je besser der Austausch gelingt, desto mehr öffnen sich die Betroffenen, desto besser sind der Therapieerfolg und damit die eigene Arbeit“, fasst Hilke Hansen zusammen. Die Zufriedenheit von Ergotherapeut:innen und Klient:innen spornt sie weiter an: Sie plant derzeit ein Seminar mit Anna Beck als Co-Referentin; weitere Ideen sind gerade am Entstehen, um das Programm KONTakt weiter zu verbreiten.